Das Steinauge & Galápagos

Ein Roman und sechs Erzählungen

Buy the book from:
Amazon

Share the Book

Philip Gandolf, erfolgreicher Schauspieler und dilettierender Autor, hat den Tod seines Jugendfreunds Stieglitz nie verkraftet, noch weniger, dass er eine Mitschuld an dessen Ableben haben könnte. So hat er sich für einen Sommer in dessen Elternhaus einquartiert, um der Frage nachzugehen, ob er am Ende doch nicht sein eigenes, sondern jenes seines verstorbenen Freundes gelebt hat. Dort setzt er sich auch Evelina, der alkohol-, religions- und sexbesessenen, aber möglicherweise visionären Schwester seines toten Freundes aus. Was seine Erinnerungen—wenn sie denn wirklich welche sind—in Gang setzt, ist das Eintreffen der ebenso betörenden wie hartnäckigen Filmemacherin Lili Fontana, die ihn mit dem Schlachtruf “Teste deine Wirklichkeit!” in die Vergangenheit schickt. Was Lili allerdings wirklich mit ihm treibt, bleibt Philip bis zum Ende verborgen.

Das Steinauge und sein Ergänzungsband Galápagos, die Philip Gandolfs Erzählungen, in denen er das Leben Evelinas liebevoll-grausam weiterspinnt, setzen dort an, wo Christoph Kellers erfolgreiches Erinnerungsbuch Der beste Tänzer aufgehört hat: bei der Frage Wie wahr ist ein Leben, das auf falscher Erinnerung beruht? “Wahre” Erinnerungselemente des Besten Tänzers aufnehmend und sie lustvoll mit den Mitteln der Fiktion weiter (auch ins Absurde) führend, ist hier der Versuch einer mythischen Biografie entstanden—fantasievoll-zärtlich wie Bruno Schulz, elegant-rätselhaft wie Nabokov, labyrinthisch-komplex wie Borges, surreal-verspielt wie Max Ernst, dem der Roman nicht nur das titelgebende Steinauge verdankt.

Christoph Keller
The Stone Eye & Galápagos: A Novel and Six Stories


Philip Gandolf, a successful actor and dilettante writer, has never come to terms with the death of his childhood friend Stieglitz—least of all with the possibility that he himself might have been partly to blame. For one summer he moves into Stieglitz’s parents’ house, to confront the question of whether, in the end, he has been living not his own life but that of his dead friend. There he also encounters Evelina, Stieglitz’s sister—alcoholic, religion- and sex-obsessed, yet possibly visionary. What sets his memories—or what may only appear to be memories—in motion is the arrival of the seductive yet relentless filmmaker Lili Fontana, who with the battle cry “Test your reality!” hurls him back into the past. What Lili is really doing with him, however, remains hidden from Philip until the very end.

The Stone Eye and its companion volume Galápagos—Philip Gandolf’s own stories, in which he cruelly and tenderly extends Evelina’s life—pick up where Christoph Keller’s acclaimed memoir The Best Dancer left off: with the question, How true is a life that rests on false memory? Incorporating “real” elements from The Best Dancer and joyfully carrying them forward with the tools of fiction (even into the absurd), Keller has here attempted a mythical biography—imaginative and tender like Bruno Schulz, elegant and enigmatic like Nabokov, labyrinthine and complex like Borges, surreal and playful like Max Ernst, to whom the novel owes not only its spirit but also its title-giving stone eye.

Ein Fest für einen Roman

Von Peter Surber, Saiten, August 2016

2003 war Christoph Kellers autobiographischer Roman Der beste Tänzer erschienen. Mit seinem nächsten Romanprojekt mit dem Arbeitstitel «Stieglitz», dessen Entstehung auch in einer TV-Dokumentation festgehalten worden ist, hat sich Keller Zeit gelassen – und dazwischen viel publiziert, unter anderem auch Englisch geschriebene Erzählungen und fotografische Arbeiten. Jetzt erscheint das Werk in einer frappierenden Doppelform als Roman mit anschliessenden sechs Erzählungen unter dem Doppeltitel Das Stein- auge & Galàpagos. Unkonventionell wird das Ereignis auch gefeiert: mit einem Sommerfest im August unter Beteiligung befreundeter Kunstschaffender.

Stieglitz ist tot – als Jugendlicher zu Tode gestürzt in einem Bachtobel, das eindeutig in St.Gallen liegt. Philip Gandolf, sein Freund, war dabei und an Stieglitz’ tödlichem Ausrutscher mitschuldig. Das lässt ihm bis heute keine Ruhe. Um die vierzig, erfolgreich als Schauspieler und dilettierend als Schriftsteller, zieht sich Gandolf in das Elternhaus seines toten Freundes zurück und erzählt beziehungsweise diktiert sich und uns seine Stieglitz-Erinnerungen. Das quasi-mündliche Erzählen entwickelt dabei einen gewaltigen Sog und kreist um die Frage, was das wahre Leben sei und ob Philip bis dahin weniger sein eigenes Leben als dasjenige seines verunglückten Freundes gelebt habe.

In den Erzählungen erweist sich Keller einmal mehr als der einfallsreiche und stilsichere Fabuleur, der er schon in seinen frühen Romanen Gulp oder Ich hätte das Land gern flach gewesen ist. Der Bogen spannt sich zeitlich vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart und eine ferne Zukunft, örtlich von den Galàpagos-Inseln bis in die Ostschweizer Hügellandschaft. Eine weitere surreale Ebene öffnen Kellers Fotografien. Das Buch erscheint in der Collection Montagnola von Klaus Isele, gefeiert wird es im Rahmen eines Sommerfests unter dem Titel «War das ein Gaudi im Hätterenwald!» – ein Zitat aus dem Buch. Keller liest und zeigt Bilder, weitere Beiträge kommen vom Musiker Daniel Schnyder, von den Autoren Peter Weber, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Rebecca C. Schnyder sowie Kellers Frau, der Lyrikerin Jan Heller Levi, und schliesslich von den Kunstschaffenden Roman Signer und Marlies Pekarek.

 

 

Lieber Christoph,

Von Hermann Kinder

Mon, Aug 15, 2016 at 6:30 AM

was für eine Überraschung: “Das Steinauge & Galápagos” ist angekommen (“angekommen” ­ ist ja ein Leitwort des Buches). Ich habe drei Tage mit dem Buch verbracht und es von Deckel zu Deckel gelesen, wie Evelina die Bibel ihres Vaters. Vielen Dank für diese erfüllten Lesetage in Köln, das auch mal mit einer Schützenkönigin vorkommt.

Das Spiel um Richtig und Falsch, Wahr und Unwahr, Erinnerung und Selbsterfindung, Fiktion, Obsession richtest Du wieder opulent und also auch Spannung machend an. Zwar ahnte ich, daß es in St. Gallen keine Tivolischlucht mit Versteinerungen gibt, dennoch suchte ich zunächst nach einigen Realitäts­belegen St. Galler Art und konnte nichts eruieren. Erst im zweiten Teil “”Niemand ist ein anderer”” wurde mir dann das Ausmaß von Täuschung und Schwindel klar, aber auch nicht ganz, denn, ob Philip Schauspieler oder Mathelehrer wurde, konnte ich nicht beantworten. Auch nicht, ob er nun doch Mathis Winter ist. Aber das verstärkt das Spiel mit den Un­Wahrheiten und steigert noch die Freude daran.

Es ist aber in meiner Lektüre nicht nur das so grandios irreführende Spiel mit dem großen Thema der Wahrheit, das mich durch das Buch ‘gezogen’ hat, nicht minder die berauschenden Überfälle an Erfindungen und an Sprache, Zitationen. Die gesprochenen Passagen mit ihrer Dichte, gerade zu Beginn, haben mich so eingesogen, daß ich zu meiner Frau, die meine Lektüre störte, patzig wurde. Aber auch wo es im Satzbau überschaubarer zugeht, bleibt die Dichte der Einfälle, für die ich Dich sehr bewundere. Die Einfälle beziehen sich auf Volten des Geschehens und auch auf Worterfindungen und Beschreibungen. Da funkelt das Erotische besonders (“Unterleibs­-Lourdes”), und die vielen Aufführungen von Details der Beschreibung (etwa der Spottwohnung) häufen schön­komisch Kurioses auf, wie ich es etwa von Grass in Erinnerung habe. Die Einfälle variieren groteske Motive (das Spucken, das Verstecken Evelinas im “Schrankfuß”), erhöhen so auch die Leselust. Doch auch abgeschlossene Grotesken wie ‘Becherovka’ sind überumpelde Digressionen, Arabesken des Satirisch­Heiteren, die mir meine Lektüre faszinierend gemacht haben.

Also: großes Lob, großen Beifall, großen Respekt vor solche einer Einfälle­Kraft auf verschiedenen Ebenen. Donnerwetter.

Verlockt von den Fotos im Buch, habe ich mir Deine Fotos auf Deiner Homapage angesehen. Und war noch einmal entzückt und entrückt von diesen Bildern, die als Fotos gar nicht so erkennbar sind. Es könnten auch Malereien der weiter geführten kühnen 20er Jahre sein: Surrealismus, Montage, expressionistische Farbfreudigkeit. Anfangs machte ich mir noch Überlegungen, wie das technisch möglich ist. Aber ich verstehe davon zu wenig ­ und staunte einfach vor diesen so schön anzusehenden Geheimnissen. Auch dafür Bravo und Applaus und Danke.

(…) Wenn ich langsam einkaufen schlürfe, gehe ich in der nahen Emma­-Straße am Stolperstein für Luise Straus vorbei. Du erwähnst ja Ernsts Ehen. Die Geschichte von Luise Straus macht mich jedes Mal traurig. Ich war auch, als es 2005 eröffnet wurde, im Max­ Ernst-­Museum, als eine prächtige Ausstellung mit vielen Leihgaben zu sehen war, die jetzt leider wieder abgezogen sind.

Lieber Christoph, Dein großes Buch, die Fülle Deiner Fotos machen mir Hoffnung, daß Du auch körperlich so kräftig bist, dies und noch mehr zu schaffen und Dein Buchfest in der St. Gallener Militärkantine angenehm feiern zu können. Und so soll es auch bleiben ­
wünscht Dir, dankt Dir, grüßt Dich Dein Hermann.

 

A Celebration for a Novel
By Peter Surber, Saiten, August 2016

In 2003 Christoph Keller published his autobiographical novel The Best Dancer. His next novel project, with the working title Stieglitz—whose genesis was also documented in a television film—took its time in coming. In the meantime, Keller published widely, including stories written in English and photographic work. Now the book has appeared in a striking double form: a novel followed by six stories, under the twin title The Stone Eye & Galápagos. Its release, too, is being marked in unconventional fashion: with a summer festival in August featuring contributions by artist friends.

Stieglitz is dead—he fell to his death as a teenager in a ravine that clearly lies in St. Gallen. Philip Gandolf, his friend, was present and partly responsible for Stieglitz’s fatal slip. That fact has given him no peace to this day. Now in his forties, successful as an actor and dabbling as a writer, Gandolf withdraws to the parents’ house of his dead friend and recounts—or rather dictates—to himself and to us his memories of Stieglitz. This quasi-oral narration develops a powerful pull, circling around the question of what true life is, and whether Philip has until now lived less his own life than that of his ill-fated friend.

In the stories, Keller once again proves himself the inventive and stylistically assured fabulist he already was in his early novels Gulp and I Would Have Liked the Country to Be Flat. The arc spans from the sixteenth century to the present and into a distant future, from the Galápagos Islands to the hilly landscape of eastern Switzerland. Another surreal dimension opens with Keller’s photographs. The book is published in Klaus Isele’s Collection Montagnola, and its launch is celebrated with a summer festival under the motto “What a blast in the Hätterenwald!”—a quotation from the book. Keller reads and shows images; further contributions come from the musician Daniel Schnyder, from writers Peter Weber, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch, Rebecca C. Schnyder, as well as Keller’s wife, the poet Jan Heller Levi, and finally from the artists Roman Signer and Marlies Pekarek.

 

 

Dear Christoph,
From Hermann Kinder
Mon, Aug 15, 2016 at 6:30 AM

What a surprise: The Stone Eye & Galápagos has arrived (“arrived”—a key word in the book, after all). I spent three days with it, reading it from cover to cover, like Evelina with her father’s Bible. Many thanks for these fulfilling days of reading in Cologne, which also happens, at times, to feature a Schützenkönigin [shooting-queen, a local pageant title].

You once again stage the play of Right and Wrong, True and False, Memory and Self-Invention, Fiction, Obsession—lavishly, and with suspense. I suspected, of course, that no Tivoli Gorge with petrifications exists in St. Gallen, and yet I first went looking for some markers of St. Gallen reality and could find nothing. Only in the second part, “No One is Another,” did I begin to grasp the extent of deception and trickery—though not completely, since I could not determine whether Philip became an actor or a math teacher. Nor whether he really was Mathis Winter after all. But that only heightened the game of un-truths and added to the pleasure.

Still, it was not only the grandly misleading play with the great theme of truth that carried me through the book, but also the intoxicating assaults of invention and of language, of quotations. The spoken passages, with their density—especially at the beginning—pulled me in so strongly that I snapped at my wife when she interrupted my reading. Yet even where the syntax is more transparent, the density of invention remains—something I admire greatly in you. The inventions concern twists of plot as well as coinages of words and descriptions. The erotic sparkles particularly here (“Underbelly Lourdes”), and the many depictions of descriptive detail (such as the mock apartment) pile up comically curious particulars, reminding me of Grass. Motifs are grotesquely varied (the spitting, Evelina hiding in the “wardrobe foot”), further increasing the reader’s delight. And there are also self-contained grotesques like Becherovka, surprise digressions, arabesques of satirical cheer, that made my reading so fascinating.

So: great praise, great applause, great respect for such inventive power on so many levels. Donnerwetter.

Enticed by the photos in the book, I looked up your photographs on your homepage. Again I was delighted and transported by these images, which hardly look like photographs at all. They could as well be paintings of the boldly inventive 1920s carried forward: Surrealism, montage, expressionist exuberance of color. At first I wondered how it was technically possible. But I know too little about that—and simply marveled at these beautiful mysteries. Bravo again, applause, and thanks for that too.

(…) As I shuffle slowly to the shops, I pass in nearby Emma-Straße the Stolperstein for Luise Straus. You mention Ernst’s marriages. The story of Luise Straus saddens me each time. I was also at the Max Ernst Museum when it opened in 2005, when a magnificent exhibition with many loans was on view, now unfortunately withdrawn.

Dear Christoph, your great book, the abundance of your photos, give me hope that you are physically strong enough to have accomplished this and much more, and that you will be able to celebrate your book festival in St. Gallen’s military canteen in comfort. And so may it remain—

wishes you, thanks you, and greets you,
your Hermann.

– war das eine Gaudi im Hätterenwald! – man muss schon von allen Wegen abkommen, um den Hochsitz, wo sich der Jäger am ehesten zeigt, gut ins Visier zu bekommen – man muss in aller Herrgottsfrühe aufstehen und Geduld haben – er erscheint mit dem ersten Tageslicht – wir liegen schussbereit im Gebüsch, als einer erscheint – er schaut sich um, ob ihm ein anderer Jäger zuvorgekommen ist, sein geschultertes Gewehr ragt aus ihm heraus wie ein Horn – so hat er die Hände für die Sprossen frei – einsilbige Schimpfwörter ausstossend, zieht sich der meist etwas beleibte Jäger recht behend Sprosse für Sprosse zur Hochsitzplattform hoch – bevor er sich dort mit einer Geduld, die er weder seinem Weibchen noch seinem Nachwuchs entgegenbringt, auf die Lauer legt, öffnet er ein flaches Fläschchen aus Metall und nimmt einen kräftigen Schluck – das ist der Augenblick, in dem man den Jäger am Leichtesten erwischt – Stieglitz drückte den Abzug der Winchester, die er seinem Vater entwendet hatte und die ich nicht einmal berühren durfte, und donnerte seine Ladung dem Jäger entgegen – erfolgreich, da es sogleich vor Schmerz und Überraschung und Wut vom Hochsitz röhrte! – der Getroffene mag einen Augenblick lang geglaubt haben, seine Beute habe ihn angegriffen – Peng! schiesst der hinterhältige Hase aus einem Busch, Paff! er- legt ihn feige das Reh von hinten! Jäger sind einfach gestrickte Wesen, teilen die Welt in lebend-oder-tot ein – was der Jäger nicht kennt, auf das schiesst er, doch unser Jäger begriff rasch, dass nicht der Fuchsbestand auf ihn geschossen hatte, sondern zwei Halbstarke, deren Kichern ihr Versteck verriet – er schwang sich auf die Hochsitzleiter – jetzt sahen wir, wie stark er blutete: aus dem Oberschenkel, was ein gutes Zeichen war, denn wir wollten nur eine Lektion erteilen – in den Filmen, die wir uns ansahen, sprach starkes Bluten stets für eine Fleischwunde, welche die hübsche Freundin verbindet, die sich auf diese Weise als erfahrene Krankenschwester zu erkennen gibt – und es floss, das Blut: aus der Hose, über die Schuhe und die Hochsitzleiter auf die Wiese vor dem Hätterenwald! – seine Blutspur ging dem Jäger voran, nicht umgekehrt der Jäger seiner Blutspur – wir lachten, Stieglitz und ich – doch als wir merkten, dass ihn sein angeschossener Gang dennoch rasch in unsere Richtung brachte, verging es uns – zwar humpelte er mit seinem verletzten Oberschenkel, doch humpelte er rasch, sprinthumpelte geradezu – wir in die Wiese – da sahen wir, dass zwischen uns und unserem Jäger an einem Baum ein Moped lehnte – »Wir trennen uns!«, schrie Stieglitz, der Verräter, und zog sich in den vor einem Moped sichereren Hätterenwald zurück – ich stand exponiert – mir blieb nur weiter in die Wiese – der Jäger, schon auf seinem Moped, wählte mich und riss es mit einem jähen Röhren in meine Richtung – keine fünfzig Meter trennten uns, die Wiese verlief ebenerdig, der übliche filigrane Baum einsam am Horizont – plötzlich hielt er an – ich ebenso – er legte auf mich an – ich, eine beweglose Silhouette vor dem Morgenhimmel – der Schuss aber kam nicht – was ging in dem Tot-oder-lebendig-Hirn des Jägers vor? – da sah ich Stieglitz hinter ihm, er stand jetzt wieder auf dem Pfad – so gründlich hatte er mich verraten, dass er sehen wollte, wie ich vom Jäger erlegt würde – ich sah mich schon kopfüber von den Jägerschultern baumeln, sah mich im Kofferraum seines Autos, obwohl er mit dem Moped unterwegs war, sah mich ausgewaidet in Plas- tikbeutel abgefüllt im Tiefkühler, sah mich als Weihnachtsbraten zubereitet – war es schon bald wieder Weihnachten? – ich schloss die Augen, wie immer griff Stieglitz ein – schrie – sodass der Jäger herumwirbelte, von mir abliess, und in den Hätterenwald schoss – schoss und fiel – lag röhrend da, zuckend, waidwund wie ein gefälltes Reh – doch auch des Jägers Beute lag – Stieglitz war gefallen – in den Tod? – in der Filmsprache, die ich später an seiner Statt büffelte, nennt man das Foreshadowing, etwas Kleines wirft seinen Schatten voraus auf etwas vergleichbar Grösseres: früher kleiner Tod zeigt den späteren grossen Tod an, das gibt dem Film Struktur, dem aufmerksamen Zuschauer etwas zum Erraten – intelligentere Zuschauer können sich über den dümmsten Film begeistern, wenn sie auf diese Weise recht bekommen, dümmere Zuschauer begeistert in der Regel schon die Tatsache, dass gestorben wird – mich aber hatte auf der Hätterenwaldwiese der Mut gepackt – war das eine Freundschaft! – Stieglitz und ich! – also doch: er hatte mein Leben gerettet! – von nun an schuldete ich ihm alles! – ich schritt auf den liegenden Jäger zu, der jetzt sein Gewehr nicht mehr hielt, sondern sich an ihm festklammerte, schritt an ihm vorbei, sprang auf den Pfad, wo mich Stieglitz grinsend und heilgesund erwartete – ab in den Wald mit ihm – durchs wilde Hätte- renwaldistan! – vom Jäger hörten wir nie wieder etwas, es muss ein Wilderer gewesen sein – oder aber ein Jäger darf nicht zugeben, angeschossen worden zu sein – schon gar nicht von Halbstarken, die er erst für Wild gehalten hat – wir begannen in der Stadt die Legende von den zurück- schiessenden Tieren zu verbreiten – flüsternd erzählten wir die selbstverfasste Ballade vom Füsilier Has nach dem Reimmuster von Schillers Glocke, die wir in der Schule auswendig zu lernen hatten, die Ballade vom HD Bambi nach dem des Erlkönigs und die Ballade vom ballerenden Biber in schnitzelbänkelnden Freiversen – wer uns nicht glaubte, den schickten wir zum Hochsitz im Hätterenwald, wo das üppig vergossene Jägerblut unser klebriger Zeuge war – bald darauf kam es zur Hasenschwemme, zur Rehplage, die Füchse zogen durch die Stadt, es wurde von schafereissenden Wölfen, von honigstehlenden Bären berichtet –

 

– what a riot it was in the Hätterenwald! – you really have to stray from every path to get the hunting stand, where the hunter is most likely to show himself, properly into sight – you have to get up at the crack of dawn and be patient – he appears with the first light of day – we lie in ambush in the bushes, rifles ready, when one appears – he looks around to see if another hunter has beaten him to it, his shouldered gun sticking out of him like a horn – leaving his hands free for the rungs – muttering monosyllabic curses, the usually somewhat portly hunter pulls himself surprisingly nimbly, rung by rung, up to the platform – before he settles in there, with a patience he shows neither to his mate nor to his offspring, he opens a flat metal flask and takes a hearty swig – that is the moment when a hunter is easiest to catch – Stieglitz pulled the trigger of the Winchester he had stolen from his father, the one I wasn’t even allowed to touch, and thundered his charge into the hunter – a hit, for he instantly bellowed with pain, surprise, and rage from the stand! – for a moment the stricken man may have believed his prey had turned on him – Bang! the sneaky hare fires from a bush, Pow! the deer cowardly fells him from behind! Hunters are simple-minded creatures, they divide the world into living-or-dead – what the hunter doesn’t recognize, he shoots at, but our hunter quickly realized it wasn’t the fox population firing back at him but two teenagers, their giggling giving away their hiding place – he swung himself down the ladder – now we saw how badly he was bleeding: from the thigh, which was a good sign, because we only meant to teach him a lesson – in the films we watched, heavy bleeding always meant a flesh wound, the kind the pretty girlfriend binds up, revealing herself to be a seasoned nurse – and bleed it did: from the pants, over the shoes and the ladder of the stand onto the meadow before the Hätterenwald! – his blood trail went ahead of him, not the hunter following his blood trail – we laughed, Stieglitz and I – but when we noticed that his limping stride was nevertheless carrying him quickly in our direction, our laughter died – yes, he was hobbling on his injured thigh, but he hobbled fast, almost sprint-hobbled – we ran into the meadow – and then we saw a moped leaning against a tree between us and our hunter – “We split up!” shouted Stieglitz, the traitor, retreating into the safety of the Hätterenwald, where a moped was no use – I stood exposed – all I could do was run further out into the meadow – the hunter, already on his moped, chose me and with a sudden roar tore off in my direction – not fifty meters separated us, the meadow lay flat, the usual spindly tree stood lonely on the horizon – suddenly he stopped – I too – he took aim at me – I, a motionless silhouette against the morning sky – but the shot never came – what was going through the hunter’s dead-or-alive brain? – then I saw Stieglitz behind him, back on the path – he had betrayed me so thoroughly that he wanted to see me brought down – I already saw myself dangling head-down from the hunter’s shoulders, saw myself in the trunk of his car, even though he was on a moped, saw myself gutted, packed into plastic bags in the freezer, saw myself roasted for Christmas dinner – was it almost Christmas again already? – I closed my eyes, and as always, Stieglitz stepped in – he shouted – so the hunter whirled around, let go of me, and fired into the Hätterenwald – fired and fell – lay there roaring, twitching, mortally wounded like a felled deer – but the hunter’s prey also lay there – Stieglitz had fallen – to his death? – in the language of film, which I later studied in his stead, that is called foreshadowing: something small casts its shadow ahead onto something much larger, an early little death signals the later great death, it gives the film structure, gives the attentive viewer something to guess at – cleverer viewers can get excited about the dumbest film if they are thus proven right, while dumber viewers are usually thrilled simply by the fact that someone dies – but on the meadow of the Hätterenwald courage had seized me – what a friendship that was! – Stieglitz and me! – after all: he had saved my life! – from then on I owed him everything! – I strode toward the fallen hunter, who no longer held his rifle but clung to it, strode past him, leapt onto the path where Stieglitz stood grinning, whole and healthy – off into the forest with him – through wild Hätterenwaldistan! – we never heard from the hunter again, he must have been a poacher – or else a hunter must never admit to having been shot, least of all by teenagers he first mistook for game – in town we began to spread the legend of the animals shooting back – whispering we recited the self-written ballad of Fusilier Hare, modeled on the rhyme scheme of Schiller’s Bell, which we had to memorize in school; the ballad of HD Bambi, in the meter of the Erlkönig; and the ballad of the blasting Beaver, in Schnitzelbank-like doggerel – whoever didn’t believe us we sent to the stand in the Hätterenwald, where the lavishly spilled hunter’s blood was our sticky witness – soon after came the hare-flood, the deer-plague, foxes roamed through the city, there was talk of wolf packs tearing sheep, of bears stealing honey –

 

 

More Books

River

An American Dreaming

Blauer Sand

Roman

Und dann klingelst du bei mir

Geschichten in leichter Sprache