A buried river, a legendary snake, and a nation dreaming itself into madness—RIVER is a hallucinatory excavation of the American experiment.
In RIVER An American Dreaming, Christoph Keller conjures a work of rare imaginative ambition: at once a mythic thriller, an excavation of buried histories, and a razor-edged meditation of the fate of the other. Set in New York City during the haunted year of 2011, the novel unfolds as a great unearthing—of an ancient river, a legendary Lenape snake, and the fever dreams at the very root of American dreaming.
At the novel’s center sits Kurt H. Adler, a wheelchair-bound archaeologist whose mind is as trenchant as it is tormented. A series of bizarre and violent incidents—a curator snipping hair from strangers, a subway miracle, a motorcyclist leaving a trail of blood—pull him into an inquiry that leads not only beneath the city, but into the shadow-realms of identity, possession, and belief.
Echoing Goethe’s Mephistopheles, Bulgakov’s Devil, and indigenous cosmologies long overwritten by conquest, Keller composes a hallucinatory portrait of a nation in the grip of its own mythology. His language is exact, exuberant, laced with dark humor and lyrical grace.
In an era when reality itself feels increasingly fictive, RIVER is both provocation and antidote—a novel that dares to dream America differently, by returning to the riverbed where its dreaming began.
Ein verschütteter Fluss, eine mythische Schlange und eine Nation, die sich in den Wahnsinn träumt – RIVER ist eine halluzinatorische Ausgrabung des amerikanischen Experiments.
In RIVER: An American Dreaming entwirft Christoph Keller ein Werk seltener imaginativer Kühnheit: zugleich mythischer Thriller, archäologische Tiefenbohrung in verdrängte Geschichten und scharfsinnige Meditation über das Schicksal des Anderen. Der Roman spielt im düsteren New York des Jahres 2011 und entfaltet sich als große Freilegung – eines uralten Flusses, einer legendären Lenape-Schlange und der Fieberträume, die den Ursprung des amerikanischen Traums bilden.
Im Zentrum sitzt Kurt H. Adler, ein Archäologe im Rollstuhl, dessen Verstand ebenso scharf wie zerrüttet ist. Eine Reihe bizarrer und gewaltsamer Ereignisse – ein Kurator, der Fremden das Haar abschneidet, ein Wunder in der U-Bahn, ein Motorradfahrer mit blutiger Spur – ziehen ihn hinein in eine Untersuchung, die nicht nur unter die Stadt, sondern in die Schattenreiche von Identität, Besessenheit und Glaube führt.
Mit Anklängen an Goethes Mephistopheles, Bulgakows Teufel und an indigene Kosmologien, die vom Kolonialismus überdeckt wurden, zeichnet Keller ein halluzinierendes Porträt einer Nation im Bann ihrer eigenen Mythen. Seine Sprache ist präzise, überbordend, durchzogen von dunklem Witz und lyrischer Kraft.
In einer Zeit, in der die Wirklichkeit selbst zunehmend fiktiv wirkt, ist RIVER zugleich Provokation und Gegengift – ein Roman, der es wagt, Amerika anders zu träumen, indem er zu jenem Flussbett zurückkehrt, wo dieser Traum einst begann.
Three things happened that strange July morning.
One: Neema Smallwood woke to find herself sitting up in bed, singing a song she had never heard in a language she didn’t know but somehow understood.
Two: She was flapping her arms like wings, knocking over the glass of water on her bedside table.
Three: The water spilled—down the nightstand, onto the floor, under her bed.
She knew she was singing inside the mind of a hunter, guiding him straight to her so he could kill her. And yet, she felt no urge to stop.
When the song ended, she looked down. Her bedside table was dry. The floor was dry. Her glass of water was full.
It must have been a dream.
But then, it happened again.
Drei Dinge geschahen an jenem seltsamen Julimorgen.
Eins: Neema Smallwood wachte auf und stellte fest, dass sie aufrecht im Bett saß und ein Lied sang, das sie nie zuvor gehört hatte, in einer Sprache, die sie nicht kannte, aber irgendwie verstand.
Zwei: Sie schlug mit den Armen wie mit Flügeln und warf dabei das Glas Wasser auf ihrem Nachttisch um.
Drei: Das Wasser lief über den Nachttisch hinab, auf den Boden, unters Bett.
Ihr war bewusst, dass sie im Kopf eines Jägers sang, den sie geradewegs zu sich führte, damit er sie töten konnte. Doch verspürte sie keinen Drang, aufzuhören.
Als das Lied zu Ende war, blickte sie sich um. Ihr Nachttisch war trocken. Der Boden ebenso. Ihr Glas Wasser war voll.
Es musste ein Traum gewesen sein.
Aber dann geschah es wieder.
Drei Tage später, beim Joggen am East River, traf sie ein Lied wie ein Schlag in die Brust. Sie taumelte zum Geländer, klammerte sich ans Metall, während die Melodie aus ihr herausströmte. Wieder kamen die Worte in einer Sprache, die sie nicht kannte, aber verstand. Diesmal handelte das Lied von einem verschütteten Fluss, der manchmal an die Oberfläche trat und alle in den Wahnsinn trieb.
Eine Joggerin in dunkelblauen Leggings, Yankees‑Cap und glänzenden Beinen blieb neben ihr stehen.
„Alles okay?“ fragte sie.
Neema konnte nicht antworten. Sie konnte nicht aufhören zu singen. Wollte es nicht. Die Klänge waren zu schön.
Die Frau zögerte. Sollte sie sie schütteln? Hilfe rufen? Lieber hörte sie zu.
Neema sang von Wäldern, in denen riesige Stachelschweine, Hirsche, Eulen und in Hirschfell gehüllte Menschen miteinander spielten. Von einem uralten Helden, der eine riesige Schlange in einen Fluss verwandelt hatte. Von einer mit Federn geschmückten Frau, die das Schicksal derer veränderte, die sie mit einem alten Knochen berührte. Von einer Zeit vor der Zeit, in der Überschwemmungen nicht von einem jähzornigen Gott geschickt wurden, sondern einfach auftraten.
Von einem Karibu, das nicht aufhören konnte zu singen, obwohl es wusste, dass sein Lied den Jäger direkt zu ihm führen würde.
Wasserwege
1
Hätte Ana länger gelebt, hätte sie vielleicht wie die junge Frau ausgesehen, die aus dem Avenue-B-Workshop in der Third Street stürmte: eine aufgebrachte Zweiundzwanzigjährige mit zerzaustem dunklem Haar und einem weißen T-Shirt, auf dem vorn stand: I’M HOT.
„Für Ana, immer!“ rief er ihr von der anderen Straßenseite hinterher.
AND YOU’RE NOT! schrie der Rücken ihres Shirts.
Ihr Haar hatte denselben dunklen Ton wie Anas, aber es war glatt, nicht wie Anas. Nicht wie Ana dachte. Sie hatte Anas hohe Wangenknochen, ihr entwaffnendes Grübchenlächeln und dieses stechende Grün in den Augen, das einen nicht losließ. Grüne Augen, die immer etwas verbargen.
Sogar ihr Gang war Anas: entschlossen, unerschütterlich. Seine eigenen Schritte spiegelten ihre, während er ihr von der anderen Straßenseite folgte. Ein Sommersprossenschauer legte sich über ihre Wangen, platzten in den Sommer, wie es bei Ana der Fall gewesen war.
Er hatte nicht so früh mit ihr gerechnet. Die Probe sollte bis acht dauern, aber es erst knapp nach sieben. Er hatte sich gerade erst an seinem üblichen Platz in der Third Street eingerichtet, zwischen Avenue B und C – einem Abschnitt, der Reverend Pedro Pietri Way heißt –, halb versteckt hinter einem dünnen Ginkgobaum und einem überquellenden Müllcontainer. Beim letzten Mal hatte er nachgeschaut, wer Pietri war – ein puerto-ricanischer Dichter, kein wirklicher Reverend – und eines seiner Gedichte auswendig gelernt, um sich die Wartezeit zu vertreiben.
Und jetzt sind sie zusammen
in der Hauptlobby des Nichts
Süchtig nach Stille
Er biss in sein Salami-Heldensandwich. Die Peperoni brannten, oder war es doch der unerwartete Auftritt der jungen Frau, der seine Augen zum Tränen brachte? Er trank gierig, Wasser lief ihm übers Hemd, und er war dankbar für die Abkühlung.
An der Second Avenue pfiff sie bei Rot über die Straße, tauchte mitten in den Verkehr.
Taxis hupten. Musik schoss aus vorbeifahrenden Autos, aus Straßencafés, aus einem riesigen Ghettoblaster, der jemandem über die Schulter hing. Wer, um Himmels willen, trug in dieser verdammten Stadt noch so ein Ding mit sich herum? Rufe verhedderten sich im unablässigen Hämmern eines Presslufthammers. Würden sie je aufhören, diese höllische Stadt zu bauen?
Auf der anderen Seite der Second Avenue stellte er sich vor, wie diese Kakophonie aus Stahl und Glas, aus Muskeln und Fleisch, von einer unsichtbaren Hand zerschlagen würde und Platz machte für unberührte Wälder, Wiesen, Felsen und Flüsse, bei denen niemand den Drang verspürte, sie umzulenken.
Sie führte ihn die Sixth Street hinunter, überquerte die Third Avenue und tauchte ein in das Easy Chair, das beliebte Café.
Er blieb draußen stehen. Die untergehende Sonne traf das neue Cooper-Union-Gebäude in der Nähe. Seine glitzernde Fassade sah aus, als hätte ein Blitz einen gezackten, senkrechten Riss hineingeschlagen.
3
Professor Kurt H. Adler, der sagenumwobene Archäologe-auf-Rädern der Rhinelander University, jagte auf seinem motorisierten Rollstuhl durch den Washington Square Park. Seine blutrote Brille von übernatürlichem Ausmaß fing das goldene Abendlicht ein, seine aufmüpfige Mähne aus braunem Haar wies ihm den Weg in den schwülen Mitte-August-Sonnenuntergang.
Harry, sein zehnjähriger Sohn, rannte voraus. Er steckte in seiner Entomologen-Kluft: khakifarbene Shorts, khakifarbenes Hemd, khakifarbener Hut, und blickte ernsthaft, wie es sich für seine „tiefgründige Profession“ gehörte. An seiner Seite trabte Poe, ihr quirliger, zweijähriger Toy Terrier und ungeschlagener Meister im Eichhörnchenjagen.
Kurt holte sie ein am Maschendrahtzaun, der die umstrittene Ausgrabungsstätte umschloss. Sie befand sich direkt unter dem legendärsten Baum des Parks: der Hangman’s Elm. Diese über dreihundert Jahre alte Englische Ulme – eine der ältesten von ganz New York – war berüchtigt für ihre grausige, wenn auch frei erfundene Vergangenheit. Angeblich hatten mindestens zwanzig Menschen an ihren Ästen gebaumelt. Dieser Mythos verdankte seine Existenz General Lafayettes überdrehter Fantasie, sein Ende aber leitete Kurt ein, der ihn in einem bissigen akademischen Aufsatz genüsslich zerpflückte. An der Rhinelander zementierte das seinen Ruf als unbestechlichen Mythenzertrümmerers.
Ein neuer Mythos überschattete den Park: Kurts Grube. Eine Ausgrabungsstätte, die es gar nicht geben durfte. Nicht, wenn es nach der Rhinelander University gegangen wäre, die den Washington Square Park als ihren Campus betrachtete und ihre Website, Broschüren und Visitenkarten mit dessen Skyline überzog. Schon gar nicht, hätte Ambrose C. Hudswell, Architekt der städtischen Parkbehörde, seinen Willen durchgesetzt. Archäologen rangierten für ihn nur knapp über Kanalratten. Doch die Denkmalpflegekommission der Stadt New York hatte andere Pläne. Sie stoppte die geplante Neugestaltung des Parks, bevor sie überhaupt begann.
Für Kurt war die geplante 20-Millionen-Dollar-Verschönerung bestenfalls überflüssig. Sicher, die Schlaglöcher, Bänke und Zäune hätten eine Auffrischung vertragen. Aber den Brunnen um ein paar Fuß zu verschieben, nur damit er exakt mit dem Triumphbogen und der Fifth Avenue fluchtete? Lächerlich. Der Charme des Parks lag doch gerade in seinem ungekämmten, bohemienhaften Durcheinander. Doch die Stadt wollte mehr Touristen. Und was brauchte Mannahatta dringender als noch mehr Menschen?
Der Eingriff der Denkmalpflege hatte dem Park eine Atempause verschafft. Erste Grabungen förderten ein paar Kleinigkeiten zutage – Scherben von gelben Schüsseln und Krügen –, Funde, bei deren Anblick Kurt sich ausmalte, wie Hudswell und seine betonhungrige Gefolgschaft die Nerven verloren. Gut so, dachte er. Gut für die Scherben.
Ein Fund jedoch ragte heraus: ein Fingerring aus Kupferlegierung mit roten Glaseinlagen, datiert auf die Mitte des 17. Jahrhunderts. Er hatte einer afrikanischen Frau gehört. Gefunden unter der Hangman’s Elm. Es war der Funke, der alles ins Rollen brachte.
Kurt zog den Schlüssel hervor, doch Harry war schneller. Er schnappte ihn sich, entriegelte das Tor und sprang in die Grube. Poe hetzte hinterher. Kurt folgte und rollte auf die Rampe. Er hatte sie selbst entworfen und patentieren lassen: die AER, Archaeological Earth Ramp. Drei Fuß breit, mit einem Gefälle von 1:12. Sie war zum neuen Standard für barrierefreie Grabungen geworden. Glatt, stabil, mühelos und bahnbrechend, im doppelten Sinn.
„Langsam, meine Herren“, rief Kurt, als sein Rollstuhl Fahrt aufnahm und leicht ins Schlingern geriet.
Poe schnüffelte mit der fieberhaften Zielstrebigkeit eines vierbeinigen Feuerlöschers, während Harry unermüdlich in alle Richtungen schoss wie ein aufgezogenes Spielzeug.
Es war die blaue Stunde: Kurts liebste Zeit des Tages. Die Sonne klammerte sich an ihre letzten Minuten und warf ein zögerliches Licht über alles. An solchen schwülen Augustabenden stellte sich Kurt vor, wie der Nebel nicht aus der Stadt aufstieg, sondern aus den Knochen darunter: Opfer längst vergessener Gelbfieberepidemien, begraben unter dem Park.
Ein klebriger Wind trug das abendliche Klanggemisch heran: «The Girl from Ipanema», das entfernte Grollen von Rachmaninows Präludium Nr. 5, ein Schlagzeugsolo, Hare-Krishna-Gesänge.
Harry und Poe zickzackten zwischen zwei Eimern mit gesiebter Erde und dem absurdesten Objekt der Grabung: einem Staubsauger, dessen elefantenhafter Rüssel aufgerollt dalag wie ein schlafendes Tier.
Das Gelände war ein Streuplatz aus Werkzeugen und Wundern. Eine Taschenlampe lag vergessen im Staub, ihr Licht warf einen blassen, gleichgültigen Schein. Eine Handschaufel steckte ihre metallene Zunge in die Erde. Kisten stapelten sich, voll mit Fundstücken der letzten Seminargrabung: ein Messingzapfhahn, eine grüne Geneverflasche, eine Kanonenkugel, ein Eichhörnchenschädel, der Porzellankopf einer Puppe aus den 1860er Jahren.
Ein plötzlicher Beller von Poe und das gierige Piepen eines Smartphones rissen Kurt aus seinen Gedanken.
Er hatte allerdings auf mehr gehofft. Nicht bloß auf einen weiteren afrikanischen Fingerring, so bemerkenswert diese auch waren. Bestimmt würden sie noch weitere finden. Immerhin hatte es hier in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts eine angolanische Siedlung gegeben und eine Gruppe halb befreiter Sklaven, denen Land zugeteilt worden war. Kurts Ambitionen griffen wie freundliche Tentakel tiefer in die Zeit. Er sehnte sich nach etwas wirklich Altem.
Eine Welle von Nostalgie überkam ihn. Harry liebte den Kitzel des Entdeckens. Das war bei Kurt nicht anders gewesen. Damals waren es Fossilien und Relikte gewesen, Fragmente vergangener Leben, bereit, die Mythen der Geschichte umzuschreiben. Harry hingegen – von der Erbkrankheit seines Vaters unbelastet – stand mit beiden Füßen in der Gegenwart. Ihn faszinierte, was lebte: Würmer, Insekten, alles, was kroch, mit oder ohne Beine.
Die Grube wimmelte von krabbelnden und kriechenden Tierchen, allesamt Kandidaten für Harrys Sammlung. Ein Glas hatte er unter der Küchenspüle hervorgeangelt, bevor seine Mutter es für Marmelade beanspruchen konnte. Die Entscheidung zwischen Himbeerkonfitüre und Käfern fiel ihm schwerer als erwartet. Die Käfer würden ins Planet Terrarium wandern, Harrys Schlafzimmer. Käferparadies! Manchmal aber expandierte Planet Terrarium und verwandelte die Wohnung am Washington Square Park West in ein summendes, sirrendes Insektarium, wenn Harry seinen Pflichten als Hüter nicht nachkam.
Kurts Gedanken tauchten tiefer. Unter der Grabungsstätte floss der Minetta Creek, einst ein fischreiches Gewässer für die Lenape, die hier seit Zehntausenden von Jahren gelebt hatten.
Sam „Two Feathers“ Hummingbird Jr., Kurts Assistent, hatte ihm die Legende der Lenape erzählt. Demnach war der Bach einst eine riesige, böse Schlange gewesen, die Menschen in den Wahnsinn trieb, bis der Lenape-Held Nanapush sie zwang, sich in einen mäandernden Wasserlauf zu verwandeln. Das war zu Anbeginn der Menschheitsgeschichte gewesen. Heute war Minetta nur noch ein unterirdisches Rinnsal, das bei starkem Regen auftauchte, manchmal so heftig, dass es Keller überflutete, auch den von Kurt.
Das Land der Lenape war heute ein Stadtpark, ein Spielplatz für Millionäre. Der Wasserlauf in Rohre gezwängt, das Vergessen kanalisiert. Doch Minetta rauschte noch unsichtbar unter der Fifth Avenue, unter der Hangman’s Elm, unter Kurts Grabung, auf dem Weg zum Hudson.
Als Sam von der Grabung über dem Minetta Creek erfuhr, war seine Reaktion alles andere als erfreut gewesen. In unmissverständlichen Worten hatte er Kurt aufgefordert, damit aufzuhören.
„Sonst …“
„Sonst was?“, hatte Kurt amüsiert gefragt.
„Sonst kehrt der Wahnsinn zurück.“
Kurt hatte es weggelacht.
Ein bisschen mehr Wahnsinn? Wem würde das schon auffallen?
Als sich der Sommer dem Ende zuneigte, schien das Schicksal der Ausgrabungsstätte besiegelt. Mit den Aktivitäten, die Rhinelander für die Wochen nach dem Labor-Day-Wochenende aufgegleist hatte, lebte die Grube ohnehin nur noch auf gesetzter Gnadenfrist. Schon der Labor-Day-Montag versprach ein logistisches Desaster: Präsident Llewellyn würde persönlich anreisen, um ausgerechnet einen Arbeiterzug die Fifth Avenue hinunter in den Washington Square Park anzuführen. Fehlte nur noch, dass sie sich auf ein Pferd schwang.
Nur ein spektakulärer Fund konnte die Grabung jetzt noch retten. Kein Archäologe mit einem Funken Selbstrespekt würde je zugeben, wie viel mehr Zeit wirklich nötig war. Aber Kurt wusste: Es müsste etwas Monumentales sein. Etwas Großes. Anakonda-groß.
„Schau mal, Dad!“
Harrys aufgeregte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Junge strahlte, öffnete die Hände und präsentierte ein orangegesprenkeltes, ganz schön großes Insekt.
„Der ist aber groß“, sagte Kurt und beugte sich näher. „Was ist das?“
Harry lachte, wie jemand, der es besser wusste. „Dad, das ist ein Amerikanischer Leichenkäfer. So selten, der ist—“
„Vom Aussterben bedroht“, sagte Kurt.
„Und ob! Der kommt hier gar nicht vor. Sein Wissenschaftsname—“
„Wissenschaftlicher Name“, korrigierte Kurt sanft.
„—ist“, sagte Harry und rückte sein Khakihemd zurecht, um seiner Ethnologen-Würde mehr Gewicht zu verleihen: „Nicrophorus americanus.“
„Du weißt wirklich-wirklich alles, Harry“, sagte Kurt und grinste. Ihr Code. Ein kleines Geheimnis nur für sie, der sie jedes Mal zum Lachen brachte. Albern und glücklich. Wirklich-wirklich.
Der Käfer entfaltete seine glänzend schwarzen Flügel, schmal wie achtfingrige Hände, und flog davon. Kurt legte den Arm um Harrys Schultern und spürte die Wärme dieses Augenblicks. Still, verbunden, ganz.
Ein Zischen durchbrach die Ruhe über ihnen.
Kurt hob den Kopf und sah den Schatten eines großen Vogels auf einem Ast, kaum zwei Meter über ihm.
Ein junger Rotschwanzbussard.
Die Schwanzfedern waren noch braun, was ihre Jugend verriet. Kurt hatte sie schon öfter gesehen, von seinem Fenster aus. Immer mehr dieser Greifvögel fanden inzwischen ihren Weg in die Stadt. Der Washington Square Park war ein Jagdparadies: Es gab Tauben, Ratten und Eichhörnchen im Überfluss. Doch so nah war sie ihm noch nie gekommen. Er konnte das Tier beinah berühren.
Langsam hob der Vogel den Kopf, spreizte die Flügel und stieg auf.
Ein tiefes Summen fuhr Kurt in den Schädel.
Sein linkes Auge zuckte. Dann durchbohrte ihn ein scharfer Schmerz.
Der Bussard glitt über den Park, stieg höher, ohne einen einzigen Flügelschlag, als würde ihn der Himmel selbst tragen.
„Dad?“ Harrys Stimme war leise. „Geht’s dir gut?“
Kurt blinzelte. Harrys besorgtes Gesicht schob sich wieder ins Bild.
„Alles gut, Harry. Hast du sie nicht gesehen?“
Harry schwieg.
„Komm, wir gehen heim“, sagte Kurt. „Es wird spät. Deine Mutter wartet. Du und Poe geht schon vor. Ich ruf nur noch kurz Sam an.“
Harry nickte und verschwand in der Dämmerung. Poe trabte treu an seiner Seite.
Kurt seufzte und wühlte in seiner Tasche, die selbst eine archäologische Grabung war. Schließlich fanden seine Finger, was sie suchten: einen forensischen Beutel vom anthropologischen Institut der Rhinelander, für besondere Funde.
Darin lag ein Objekt.
Nicht zu groß. Nicht zu klein.
Einen Moment lang wog er es in der Hand. Dann lachte er leise, leichtsinnig, frevelhaft und warf es zurück in die Grube.